Auf ein Wort / Lesepredigten
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Reformationstag 2021
Sind wir frei? Fühlen Sie sich frei?
Natürlich sind wir frei, frei zu sagen, was wir sagen wollen,
Natürlich bin ich nicht frei zu sagen was ich will,
Worte können andere verletzen und Unheil bewirken.
Natürlich sind wir frei im Denken, denn die Gedanken sind frei …
Natürlich bin ich nicht frei im Denken, denn mein Denken hat seine Grenzen schnell erreicht, einfach durch mein begrenztes Wissen und Vorstellungsvermögen.
Natürlich sind wir frei hinzugehen wohin wir wollen
Natürlich bin ich nicht frei, einfach wegzugehen, familiäre und andere Banden, Grenzen, finanzielle Begrenzungen, Corona und andere Widrigkeiten halten mich
Natürlich sind wir frei zu leben, wie es uns entspricht
Natürlich bin ich so frei nicht. Gesellschaftliche Konventionen schränken uns ein, unsere Möglichkeiten sind begrenzt
Und wir sind sterblich und müssen einst die letzte aller Begrenzungen schmerzlich erfahren
Wie frei sind wir, wie frei fühle ich mich, was bedeutet Freiheit für mich?
Welche Freiheit ersehne ich?
Aufruf zur rechten Freiheit – hört Worte des Apostels Paulus:
Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!
Das liest sich leicht. Und weiter lesen mag ich gar nicht deine Worte, Paulus nach all den Gedanken, die mir und anderen zu Deinem Freiheitsimpuls gekommen sind.
Weiterlesen mag ich gar nicht von der unsäglichen Debatte bei den Galatern um das beschnitten werden, um Gesetzeserfüllung – all das ist mir so fern. Viel näher sind mir Gedanken an die Freiheit, die Jesus gelebt hat.
Mitunter habe ich auch diesen Impuls, den ich schon als Kind kannte – hinausziehen in die Welt, frei und ledig, niemandem mehr dienlich sein müssen, niemandem verpflichtet – wie Hans im Glück
Oder losgehen wie Harpe und den Zettel an die Tür nageln: Bin dann mal weg.
Entdeckungen machen auch in mir selbst. Die mache ich im Gehen bestimmt intensiver, als beim Sitzen auf dem Sofa. Der Straße folgen, den Kirchturm hinter mir lassen, auf Feldwegen weiter gehen, dem Storch nach träumen, der nach Afrika fliegt. Keinem Zweck dienen, nach keinem Ziel streben. Einfach neugierig sein, wohin mich meine Füße tragen. Wem ich begegnen werde auf den Wegen, die sich irgendwo kreuzen.
Ein bisschen hast du das ja auch so gemacht, aber andererseits auch ziemlich verzweckt. Wen wolltest du nicht alles erreichen und missionieren. Da war Jesus doch entspannter. Er sagte einfach dem einen oder anderen. Komm mit. Manch einer ist mit gegangen, mancher auch nicht.
Und hatte Jesus nicht gesagt: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.
Er hatte wahrlich kein Haus. Jesus – ein Nichtsesshafter. So hatte er auch nicht ein Schrank voller Geschirr und vier verschiedene Salzstreuer und Regale voller Bücher und und und…
Was hätte er wohl auf der Arbeitsagentur angegeben? Zimmermann? Wanderprediger? Oder Wanderer und Zuhörer. Wunderheiler – hätte dann die freundliche Dame gemeint, sollte auf einen Erfassungsbogen geschrieben werden.
Da hätte sich Jesus vielleicht verwahrt. Andererseits wäre er, glaube ich, gar nicht auf eine Arbeitsagentur gegangen, höchstens um andere zu gewinnen zum Mitgehen.
Nein, ihr braucht nicht jüdisch zu werden. Ihr braucht euch nicht taufen zu lassen. Ihr braucht nichts auswendig zu lernen. Es reicht mitzugehen. So hätte er gesagt und darauf vertraut, dass sich der Glauben ergeben würde. Und manche wären mitgegangen.
Und sie hätten es erlebt, dass er sich nicht mit vertanen Chancen und dem was schiefgelaufen ist, aufgehalten hätte.
Und sie hätten erlebt, wie er versucht hätte, dem Stummen von den Lippen abzulesen und sich dem Tauben verständlich zu machen und wie er den Blinden an die Hand genommen hätte und dass er nichts zur Bedingung gemacht hätte außer sich von der Liebe anrühren zu lassen. Wer dann diese Liebesberührung Gottes erlebt hätte, käme nicht umhin, die Welt, die Menschen, die Bäume, die Häuser, selbst die verfallensten, die Tage, selbst die trübsten und traurigsten mit einem liebevollen Blick anzuschauen und so ganz neue Möglichkeiten zu entdecken.
Wer die Liebesberührung Gottes erlebt, der kann plötzlich sehen, dass die Armen selig sind, die Sanftmütigen das Erdreich besitzen, die nach Gerechtigkeit dürsten, satt werden, die Barmherzigen Barmherzigkeit erlangen, die Friedfertigen zu Gott gehören.
Wer sich von der Liebe Gottes anrühren lässt, dem werden die Augen dafür geöffnet. So ging es doch dir, Paulus, damals vor Damaskus.
Warum sage ich das alles einem Paulus den ich mir als Gegenüber vorstelle. Warum sage ich das alles im Grunde mir selbst und Ihnen heute am Reformationstag?
Weil Paulus mich auf - und anregt.
Weil es darum geht Spielräume des Denkens und des Handelns neu zu gewinnen.
Weil es darum geht, dem Möglichen mehr Raum zu geben und der dem Bedrückenden des Alltags, schließlich auch dem Tod, die Macht zu nehmen.
Weil es darum geht, neu zu sehen.
Eigentlich ist es doch gerade das, was auch Paulus im Sinn hatte, als er den Brief an die Galater schrieb und sie zur rechten Freiheit aufrief.
Sie sollten nicht meinen, etwas erfüllen zu müssen um zum Glauben an Christus zu finden und um an Gottes Welt Anteil zu haben.
Aber wie findet man zum Glauben an Christus? Wie bekommt man Anteil am Reich Gottes? Luther meint durch Gnade allein.
Hilft diese Antwort?
Ich weiß auch nicht genau, wie man den Glauben findet.
Ich weiß nur, dass es mir widerfahren ist und vielen, vielen anderen Menschen auch. Es widerfährt einem einfach. Der Glaube widerfährt einem.
Es ist gerade so, wie die Spinnweben im Herbst, die durch die Lüfte fliegen. Wie leise Fäden, die man ergreifen kann. Überall liegen diese Erfahrungen in der Luft.
Freilich an manchen Orten vielleicht mehr, an anderen vielleicht weniger.
Und gerade darum habe ich diesen Impuls, loszugehen, Ausschau zu halten. Weil ich doch den Glauben nicht ins Regal stellen kann, wie ein Buch. Der Glauben ist etwas Lebendiges, das Impulse gibt.
Und die sind allezeit zu spüren: in einer Begegnung, einem Gespräch, bei Trauernden und Sterbenden und für mich oft auch im Unterwegssein.
Nein, keine Bange. Sie werden nicht gleich lesen – ich bin dann mal weg, höchstens, „ich komme gleich wieder“. Dann wissen Sie aber, er ist mal draußen, eine Runde Rad fahren, oder auch am Waldrand in der Sonne sitzend.
Freilich, ab und an bin ich auch mal in Afrika, oder woanders in der Welt, an anderem Ort jedenfalls. Denn wenn ich dann wieder da bin, manchmal auch nur nach einer Runde Radfahren und Träumen, dann sieht mein Zuhause schon anders aus. Die Wände des Arbeitszimmers haben sich verschoben und die Luft riecht nach Frühling mitten im Herbst.
Diese Erfahrung, Impulse Gottes, wünsche ich Ihnen zum Reformationsfest und überhaupt. Amen.