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Predigt zu Psalm 22
Der Gesang der Kantorei war verklungen. In ihr hallte es noch nach.
Es klang schön. Irgendwie passend. Hätte sie gar nicht gedacht, dass sie das anrührt.
Karfreitag war ihr eigentlich immer egal. Dankbar war sie schon für den freien Tag. Mitunter hat sie auch etwas unternommen, ist mit Manfred irgendwohin gefahren, sie waren im Wald spazieren nachdem sie gemütlich gefrühstückt haben. Aber seit Manfred nicht mehr lebt und der Sohn aus dem Haus ist, war sie immer allein. Da hat sie manchmal aufgeräumt, was es schon immer mal aufzuräumen gab, ja an Fenster putzen hat sie auch gedacht, es sich aber verkniffen. Immerhin Karfreitag.
Heute nun ist sie das erste Mal (wohl überhaupt das erste Mal in ihrem Leben) am Karfreitag in der Kirche. Nicht dass sie nicht wüsste, um was und wen es am Karfreitag ginge, auch wenn ihre eigne Konfirmation schon 100 Jahre her ist, aber interessiert hat sie das nie. Und auch heute war es eher der Chor, den sie mal hören wollte. Ob das vielleicht für sie etwas wäre, ein Chor in dem sie mitsingen und vielleicht irgendwie neue Kontakte knüpfen könnte.
Was sie sangen klang schön, schien ihr aber ziemlich herausfordernd und sie weiß noch nicht, ob sie das kann und will. Und die Worte die gelesen und gesprochen werden sind ihr im Grunde egal.- Ihre Gedanken laufen auf einer anderen Spur. Ja eigentlich von einem Satz ausgelöst, dem einzigen, der ihr heute etwas sagt, wo sie vorhin für einen Moment aufhorchte: Mein Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen.
Ja, das ist auch ihr Satz, den könnte sie auch sagen. Denn verlassen fühlt sie sich seit Manfreds Tod, spätestens seit dem Auszug ihres Sohnes, der sein eigenes Leben lebt. Und mit den Nachbarn gibt es auch nur Guten Tag – guten Weg und ihre Kollegen, die leben in anderen Sphären: Urlaub mit dem Kreuzfahrtschiff oder die neue Campingausstattung und ihr Chef, der ewige Besserwisser, mit dem mag sie mehr als das Nötigste nicht austauschen auch wenn er sich irgendwie für sie zu interessieren scheint.
Verlassen, ja das ist ihr Leben. Und das ist manchmal kaum auszuhalten. Warum aber soll es ihr besser gehen als Millionen anderer, die verlassen sind, oder irgendwie leiden, sich quälen, die einfach übel dran sind.
Aber wieso dieser Jesus den anruft, der ihn verlassen hat, darüber grübelt sie. Wieso hält dieser Jesus noch fest an Gott, das will ihr nicht in Kopf gehen. Oder hat das Jesus gar nicht gesagt. Es war dieser Psalm den sie beteten.
Aber eigentlich egal. Der das mal aufgeschrieben hat, dem ging es wie ihr und wie Jesus. Nein der Vergleich mit Jesus ist überzogen. Aber verlassen, das ist sie und war er, dieser Psalmdichter oder wie auch immer er sich nannte, auch.
Beeil dich mir zu helfen – oder so ähnlich endete das.
Der hat noch etwas gehofft. Trotz allem.
Worauf hoffe ich noch? Was soll da noch kommen, jetzt wo ich fast 60 bin?
Das hat sie sich in letzter Zeit öfter gefragt. Aber die Frage führt zu nichts.
Was soll noch kommen? Was könnte sie machen. Vielleicht doch den Chor. Überlege ich mir noch, denkt sie, während das nächste Lied zu hören ist.
Beeile dich mir zu helfen.
Hat nichts genützt. Zumindest was Jesus betraf. Gekreuzigt haben sie ihn. Wenn die Mächtigen einen loswerden wollen, dann schaffen die das.
Ob Gott diesem Dichter geholfen hat? Ob Gott ihr hilft? Und wenn ja, wie denn? Wie wäre ihr zu helfen? Sie weiß es nicht.
Was könnte Gott machen? Was könnte sie machen.
heute am Karfreitag?
Sie könnte Radieschen aussäen, Blumensamen verstreuen auf die Hundewiese vor der Kirche oder anderswo. Sie könnte ihrer Nachbarin ein paar englische Scones, die sie selbst gebacken hat vor die Tür legen. Sie könnte ihre Sopranflöte herausholen und probieren, ob da noch Töne herauskommen. Sie könnte ein Osterbrot backen, eine Kerze entzünden. Eigentlich könnte sie mal eine Liste machen mit allem, was noch so denkbar und gut wäre. Sie könnte mit dieser Liste - ja das könnte sie: dem Tod die Stirn bieten.
Was für irre Gedanken plötzlich in ihr sind! Und das mitten im Gottesdienst am Karfreitag.
Solche Gedanken, liebe Gemeinde wünsche ich mir, wünsche ich Ihnen, wünsche ich vor allem allen, die sich verlasse fühlen. Mit
einer Liste der Hoffnung dem Tod die Stirn bieten, das finde ich eine nachahmenswerte Idee. Auf meiner Liste steht auch
innehalten
mitfühlen
mich in Mitleidenschaft ziehen lassen
hinsehen wo das Leid unübersehbar ist
verschenken
nachgeben
versuchen andere Ansichten zu verstehen
anderen die Tür aufhalten
die Wegzeichen Gottes suchen wie Ostereier
und ganz oben:
Jesus der dem Tod widerstanden hat. Amen.